Bürgerbewegungen in der DDR 1989 und 1990
Die Bürgerbewegungen spielten in der DDR im Herbst 1989 eine zentrale Rolle. Oppositionelle Gruppen wie das Neue Forum oder Demokratie Jetzt wurden zum Sprachrohr vieler DDR-Bürger. Am Zentralen Runden Tisch in Berlin traten Vertreter der Bürgerbewegungen Ende 1989 in den politischen Dialog mit den alten Kräften in der DDR. 1990 setzten sich die Bürgerbewegungen für ihre Beteiligung an der politischen Umgestaltung der DDR ein.
Die Proteste aus Anlass der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 waren ein erster deutlicher Ausdruck einer selbstbewussteren und zahlenmäßig stark angewachsenen Opposition in der DDR. Bürgerrechtler starteten Aufrufe für einen Wahlboykott, führten Wahlkontrollen durch und warfen den Verantwortlichen öffentlich Wahlfälschungen vor. In den DDR-Medien fanden die Proteste gegen die Wahlen jedoch keine Erwähnung. Die Ergebnisse der Kommunalwahlen wurden in der Berichterstattung als Bestätigung der amtierenden Regierung dargestellt und als Zustimmung der Bevölkerung zum politischen Kurs in der DDR verkauft.
Mit der beginnenden Ausreisewelle von DDR-Bürgern im Juli 1989 beendeten viele oppositionelle Gruppen ihr Nischendasein, das sie bislang überwiegend unter dem Dach der evangelischen Kirche geführt hatten. Bedeutende Oppositionsgruppen innerhalb der Bürgerbewegungen, auf die nachfolgend näher eingegangen wird, stellten das Neue Forum (NF), Demokratie Jetzt (DJ) und die Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM) dar. Weitere Bürgerbewegungen waren die Vereinigte Linke (VL) oder der Unabhängige Frauenverband (UFV). Daneben bildeten sich auch Parteiinitiativen wie die Sozialdemokratische Partei (SDP), der Demokratische Aufbruch (DA) oder die Grüne Partei.
Das Neue Forum
Am 9. und 10. September 1989 gründete sich das Neue Forum, die mitgliedstärkste DDR-Bürgerbewegung des Herbstes 1989. In ihrem Gründungsappell „Aufbruch 89 – Neues Forum“ beschreibt sich die Gruppe als „(...) eine politische Plattform für die ganze DDR, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung notwendiger lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in unserem Land zu beteiligen.“
Erstunterzeichner waren unter anderem Bärbel Bohley, Katja Havemann, Rolf Henrich, Jens Reich und Sebastian Pflugbeil. Erste Versuche des Neuen Forums, sich beim Ministerium des Innern offiziell anzumelden, scheiterten. DDR-Innenminister Friedrich Dickel lehnte den Gründungsantrag am 20. September 1989 mit der Begründung der Verfassungswidrigkeit der Vereinigung ab. Das Forum wurde als staatsfeindliche Plattform eingestuft.

In der Aktuellen Kamera vom 21. September 1989 verlas die Nachrichtensprecherin Renate Krawielicki die Erklärung Friedrich Dickels zur Ablehnung des Gründungsantrages:
„Der Minister des Innern der DDR teilt mit, dass ein von zwei Personen unterzeichneter Antrag zur Bildung einer Vereinigung ‚Neues Forum’ eingegangen ist, geprüft und abgelehnt wurde. Ziele und Anliegen der beantragten Vereinigung widersprechen der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik und stellen eine staatsfeindliche Plattform dar. Die Unterschriftensammlung zur Unterstützung der Gründung der Vereinigung war nicht genehmigt und folglich illegal. Sie ist ein Versuch, Bürger der Deutschen Demokratischen Republik über die wahren Absichten der Verfasser zu täuschen.“
Demokratie Jetzt
Die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt hatte ihren Ursprung in dem innerkirchlichen Arbeitskreis „Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“. Ihr Gründungsappell „Aufruf zur Einmischung in eigener Sache“ und die „Thesen für eine demokratische Umgestaltung der DDR“ stammten vom 12. September 1989.
Mitbegründer von Demokratie Jetzt waren unter anderem Hans-Jürgen Fischbeck, Ulrike Poppe, Wolfgang Ullmann und der Filmregisseur Konrad Weiß.
Das Selbstverständnis der Bürgerbewegung formulierten Ulrike Poppe und Jörg Hildebrandt in einem Interview für die Aktuelle Kamera am 24. November 1989:
„Wir sind wie Sie selbst sagten 'ne Bürgerbewegung, das heißt, wir haben informelle Arbeitsstrukturen, wir sind keine Vereinigung mit festen Mitgliedschaften und natürlich keine Partei. Das ist besonders wichtig, die Betonung keine Partei, das bedeutet für uns, dass wir keine Mitglieder zu werben haben, dass wir doch in gewisser Weise sehr locker und frei auch für uns reagieren können."

Initiative für Frieden und Menschenrechte
Die Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM) trat bereits Anfang 1986 in Erscheinung und veröffentlichte die Oppositionszeitschrift „Grenzfall“. Die IFM stellte die wohl kleinste Gruppe der DDR-Bürgerbewegungen dar. Bekannte Mitglieder wie Bärbel Bohley, Ulrike Poppe oder Ibrahim Böhme wandten sich 1989 anderen Oppositionsgruppen zu.
Vereinigte Linke
Die Vereinigte Linke (VL) gründete sich am 2. Oktober 1989. Die VL trat für eine Reformierung des Sozialismus unter Beibehaltung des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln ein.
Sie lehnte eine Wiedervereinigung ab und befürwortete eine Zwei-Staaten-Lösung. Auf einer Demonstration gegen die Wiedervereinigung am 19. Dezember 1989 in Berlin sprach sich Marion Seelig, eine der Mitbegründerinnen der Vereinigten Linken, für die Souveränität der DDR aus.
Unabhängiger Frauenverband
Der Unabhängige Frauenverband (UFV) veröffentlichte seinen Gründungsaufruf am 26. November 1989 und vollzog seinen formalen Gründungsakt offiziell am 17. Februar 1990.
Die Statusfrage: Bürgerbewegung oder Partei
Am 7. Dezember 1989 erfolgte erstmals ein geordneter Dialog zwischen den alten politischen Kräften und Vertretern der oppositionellen Gruppen am Zentralen Runden Tisch in Berlin.
Nach dem Rücktritt der Regierung Stoph stellte sich für die Bürgerbewegungen und die oppositionellen Gruppen die Frage, wie man bei der politischen Umgestaltung der DDR mitwirken wollte. Sollte das Wahlgesetz nur Parteien bei den bevorstehenden Wahlen zulassen, mussten die Bürgerbewegungen über ihre Statusfrage beraten. Damit verbunden war auch die Frage, ob man sich zukünftig als Partei etablieren wollte.
Das Gesetz für die Volkskammerwahlen 1990 ließ schließlich auch Bürgerbewegungen zu, die sich daraufhin als politische Vereinigungen mit Statut und Programm zu wählbaren Organisationen formierten.
Das Neue Forum bekräftigte auf seiner ersten landesweiten Gründungsversammlung am 6. und 7. Januar 1990 in Leipzig das eigene Selbstverständnis als eine basisdemokratische Bürgerbewegung. Die Mitglieder des Neuen Forums einigten sich darauf, parteilose Kandidaten für die Volksvertretungen zu nominieren.
Konrad Weiß, ein führender Vertreter von Demokratie Jetzt, äußerte sich zur Problematik der Parteiengründung am 19. Januar 1990 auf dem Landesdelegiertentreffen in einem Interview gegenüber dem DDR-Fernsehen:
„Wir sind vom Ansatz her eine Bürgerbewegung. Als eine Bürgerbewegung haben wir uns gegründet und ich denke, darüber wird heute zu beraten sein. Es hängt natürlich vom künftigen Wahlgesetz ab. Wir haben gesagt, dass wir politische Verantwortung übernehmen wollen, wenn das nur möglich ist, wenn man Partei ist, dann muss man darüber neu nachdenken.“
Wahlbündnisse zur Volkskammerwahl 1990
Um höhere Wahlergebnisse bei den ersten und einzigen freien Volkskammerwahlen der DDR erzielen zu können, gingen die Bürgerbewegungen Wahlbündnisse mit Parteien oder untereinander ein.
So schlossen sich das Neues Forum, Demokratie Jetzt und die Initiative für Frieden und Menschenrechte am 7. Februar 1990 zu dem Wahlbündnis „Bündnis 90“ zusammen.
Bärbel Bohley, eine führende Vertreterin des Neuen Forums, informierte in einem Interview am 07. Februar 1990 über Ziele des Wahlbündnisses:
„Na einmal sollte wesentlich die Demokratisierung och noch weitergeführt werden, denn die ist ja absolut noch nicht beendet, an allen Ecken und Enden haperts und man sieht’s auch, dass die alten Strukturen noch da sind. Dann sind wir sehr dafür, dass die Selbstbestimmung und auch die Eigenverantwortlichkeit der DDR-Bevölkerung nicht aufgesogen wird vom Westen, sondern dass wir unseren Weg selbst mitbestimmen wollen und das gehört eben mit zur Demokratisierung ganz wesentlich. Dann liegt uns sehr viel daran an, an den ökologischen Absicherungen in der DDR, die natürlich auch auf der Strecke bleiben, wenn man hier nur investiert, an der Kontrolle der wirtschaftlichen Umgestaltung und vor allen Dingen an den sozialen Absicherungsmaßnahmen, die unbedingt notwendig sind, damit nicht zu viele Leute auf der Strecke bleiben."

Literatur
Gründungsaufruf Neues Forum, in: Rein, Gerhard (Hg.): Die Opposition in der DDR: Entwürfe für einen anderen Sozialismus. Texte, Programm, Statuten von Neues Forum, Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt, SDP, Böhlener Plattform und Grüne Partei in der DDR, Berlin 1989, S. 13f.
Haufe, Gerda; Bruckmeier, Karl (Hg.): Die Bürgerbewegung in der DDR und in den ostdeutschen Bundesländern, Opladen 1993.
Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949 – 1989, Berlin 1997.
(ms)